Entschuldigen Sie bitte, wie finde ich einen taiwanesischen Ureinwohner?

In Australien warfen sie Boomerangs, in Nordamerika schossen sie einst mit Pfeil und Bogen. In Taiwan gibt es auch sehr viele Ureinwohner, und es gibt sogar Forscher für die Taiwan als der Ursprungsort aller Völker des Pazifiks gilt.

Seit sechs Jahren lebe ich schon in Taipeh, der pulsierenden Hauptstadt Taiwans. Taipeh ist modern und international, und Angehörige westlicher Staaten, die wie ich in Taipeh wohnen, schätzen die hohe Lebensqualität. Wenn ich morgens in der U-Bahn sitze, sind in der Menschenmenge viele Nationalitäten auszumachen: Amerikaner, Europäer, Japaner, Koreaner und Südostasiaten – aber Ureinwohner? Habe ich noch nie gesehen. Wie sehen die überhaupt aus? Würde ich einen taiwanesischen Ureinwohner bemerken, wenn er meinen Weg kreuzen würde?

Ich spreche Chinesisch, bin der stolze Besitzer eines alten Opels und neugierig bin ich sowieso. Es war Sonntag, der Taipeher Himmel war wie fast immer blau, also entschloss ich mich, einen Wochenendtripp zu starten. Ziel der Mission: einen taiwanesischen Ureinwohner finden und dann fragen, wie es ihm im Leben so ergeht.

„Fahren Sie durch den Xueshan Tunnel, dann die Serpentinen entlang der Küste in Richtung Hualien. Halten Sie an der ersten Ampelkreuzung, gehen Sie in den Tante Emma Laden dort, kaufen Sie ein Bier und fragen Sie den Inhaber. Der sagt Ihnen dann, wo die Ureinwohner leben.“ So hatte meine liebe Taipeher Vermieterin mir am Morgen noch erzählt.

In Taiwan fährt man auf der rechten Seite, wie in Deutschland auch. Die Ostküste ist nur zwei Autostunden von Taipeh entfernt.
In Taiwan fährt man auf der rechten Straßenseite, wie in Deutschland auch. Die Ostküste ist nur zwei Autostunden von Taipeh entfernt.

Na ja, ehrlich gesagt hatte sie sich nicht ganz genauso ausgedrückt, aber ganz genau so habe ich es getan. Ich stellte das Bier auf den Verkaufstresen und stellte dem Ladeninhaber meine Frage: „Entschuldigen Sie bitte, wie finde ich einen taiwanesischen Ureinwohner?“

Die Anwort hätte leichter nicht sein können. Der Ort, in dem ich mich befand, hieß Dongao. Dongao hat nur eine Straße, und während auf der rechten Seite dieser Straße die `normalen` Taiwanesen leben, ist auf der linken Straßenseite die Siedlung der Ureinwohner.

Ich bedankte mich bei dem freundlichen Ladenbesitzer und lief dann rüber zur `anderen Seite`.

Dongao hat nur eine Straße. Auf der linken Straßenseite ist die Siedlung der Ureinwohner.

Ich muss sagen, es sah etwas anders aus in den Gässchen der Stammessiedlung als in den Dörfern Taiwans, die ich zuvor gesehen hatte. Aber nicht sehr viel anders, und die Leute, die dort auf ihren Terassen saßen, hätten ich sie morgens in der Taipeher U-Bahn gesehen, wären mir nicht weiter aufgefallen. Nur einen Umstand gab es, der mich fühlen ließ, dass diese Leute Angehörige einer besonderen ethnischen Gruppe sind: die Leute saßen in Gruppen von zehn, zwölf, fünfzehn zusammen, und das ohne einen augenscheinlichen Anlass, wie z.B. eine Feier zu haben.

Das ist die Siedlung des Taya-Stammes.

Ich verstand, dass ich gefunden habe, wonach ich suchte, aber irgendwie traute ich mich nicht, einfach Hallo zu sagen. Ich hatte wohl im Hinterkopf, was es heißt in Deutschland uneingeladen die Terasse eines Fremden zu betreten: gesellschaftlicher faux-pas, Landfriedensbruch, etc…

Ich beließ es für den Tag, lief die ein, zwei Kilometer bis zum Strand, zündete mir ein Lagerfeuer an, trank mein Bier, zählte mehr Sternschnuppen als jemals zuvor und haute mich aufs Ohr.

Die Bucht von Dongao ist sehr sauber. Jeder Taifun, jedes Erdbeben verändert die Felsformationen.

Der nächste Morgen war wunderschön: das türkise Wasser der Bucht von Dongao, die steile Bergkette im Hintergrund und ein Strand ohne Müll so weit das Auge reichte.

Ich lief zurück zu dem Platz an dem mein Auto stand. Zwei wilde Hunde begleiteten mich auf meinem Weg, und somit fühlte ich mich vergnügt und bestens unterhalten.

Die Pazifikküste Taiwans ist an vielen Stellen von atemberaubender Schönheit. Taiwan ist ein sehr sicheres, sauberes und unkompliziertes Reiseland.

Mit offenen Autofenstern kreutze ich dann langsam in der Ureinwohnersiedlung auf und ab, denn meine Mission war ja noch längst nicht erfüllt: die Mission, einen taiwanesischen Ureinwohner zu finden und dann zu fragen, wie es ihm im Leben so ergeht.

Aber: Nach zehn Minuten gab ich auf und gestand mir ein, dass meine Mission als verfehlt galt. Denn: Wie lange kann man langsam in einem Wohnviertel mit vierzig Häusern, acht Gässchen und fünf (!) Kirchen hin- und herfahren, ohne entweder für einen Einbrecher oder einen Zivilpolizisten gehalten zu werden?

Hinter der Siedlung führte ein Feldweg in die Berge hinauf. Ich fuhr ein paar Minuten den Weg entlang, und plötzlich stand da eine alte Frau mitten auf der Straße. Sie sah so sehr nach Ureinwohner aus, wie man nach Ureinwohner nur aussehen kann.

Sie hatte einen großen flachen asiatischen Feldarbeiterhut auf dem Kopf, trug eine rote handbestickte gewebte Jacke, auf den Rücken hatte sie einen mit Blättern vollgestopften Bambuskorb geschnallt und in der Hand hielt sie eine riesige Machete.

Ich brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, was sie wollte: sie wollte, dass ich anhalte und sie einsteigen lasse – Oh, Mann, hatte ich ein Glück, denn diese alte Frau war nicht nur eine besonders exotische Anhalterin, sondern auch ganz ohne Zweifel eine taiwanesische Ureinwohnerin!

Ich trat auf die Bremsen, half ihr den Bambuskorb und die Machete auf dem Rücksitz zu verstauen, und fuhr dann langsam weiter den Berg hinauf.

„Amerikano!“ nannte sie mich unentwegt, aber das machte mir nichts aus. „Taya“, hieße ihr Stamm und „Sakura“ hieß sie selbst. „Warum haben Sie einen Namen, der sich so japanisch anhört“, fragte ich, den Wagen vorsichtig den immer schmaler werdenden Feldweg entlag fahrend.

„Ich bin 65 Jahre alt – im August hatte ich einen Schlaganfall  – ich habe schon drei Söhne geboren, und danke fürs Mitnehmen, mein Moped schafft es nicht auf den Berg hinauf !“ Sie ignorierte meine Fragen völlig.

„Die Blätter im Korb sind für meine Gänse“,  fuhr Sakura fort, „ich kann kein Englisch, kannst du japanisch?“ Sie sprach viel zu laut, wie es alte Leute oft machen, aber ich hatte trotzdem Vergnügen an der Fahrt, denn die alte Frau war eigentlich sehr liebenswert.

Ich erfuhr weiterhin, dass Sakura in ihrer Jugend in einer Konservendosenfabrik in Japan gearbeitet hat.

Die alte Frau entdeckte einen Arbeiter, der im Unterholz ein Rohr zu reparieren schien. Ich nahm an, dass das eine Wasserleitung war, die die Siedlung mit sauberem Quellwasser aus den Bergen versorgte. Sakura deutete mir an, den Wagen zu stoppen. Sie schrie etwas, was ich nicht verstand, und der Arbeiter rief etwas zurück, was ich auch nicht verstand.

„Ihr habt eure eigene Sprache hier, oder?“ fragte ich.

„Das ist Taya Sprache, die Sprache von uns Ureinwohnern. Auf der anderen Straßenseite sprechen sie Taiwanesisch“, belehrte mich Sakura mit einem Hauch von Stolz in ihrer Stimme.

Wir kamen zu dem Sperrholzhüttchen, in dem Sakura ihre Gänse aufzog.

„Danke Amerikano“, sagte die alte Frau und machte sogar eine kleine Verbeugung. Ich half ihr wieder mit ihren Sachen auf dem Rücksitz und wünschte ihr einen schönen Tag.

Doch halt! Da hätte ich doch fast etwas ganz Wichtiges vergessen! Ein Foto von Sakura und mir!

Die Kamera in eine Astgabel geklemmt, den Selbstauslöser eingestellt, uns beide in Pose gesetzt,  dann ein `Klick`. Und mit dem `Klick` war meine Mission erfüllt – ich hatte meinen taiwanesischen Ureinwohner gefunden!

Sakura und ich – meine Mission ist erfüllt, ich habe einen taiwanesischen Ureinwohner gefunden!

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