Immer büffeln

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Nachhilfe bis zum Abwinken für Schulkinder in Taiwan

 

Es ist Donnerstag Abend viertel vor zehn. Die drei kleinen Klassenzimmer einer Taipeher Nachhilfeschule sind spartanisch ausgestattet. Es gibt Licht von zwei Neonröhren, Whiteboard, Metallstühle ohne Polster, ein Schreibtisch für je drei Schüler und eine Überwachungskamera in einer Ecke der Räume. Der Lehrer, ein übergewichtiger Mann in Jogginganzug, spricht in monotonem Ton und kritzelt mit blauem Marker an die Tafel. Die mathematische Formeln, Kalkulationen und Graphiken sind komplex- es scheint, den Teenagern werde Lehrstoff auf Universitätsniveau vermittelt.

 

 

75% der Kinder Taiwans besuchen nach dem regulären Unterricht Nachhilfeschulen. Die Debatte über einen Nachhilfeboom ist in dem ostasiatischen Land ein alter Hut. Wie auch in Deutschland floriert das Geschäft mit der Bildung außerhalb des regulären Schulsystems, doch anders als in Deutschland, begann diese Entwicklung in Taiwan bereits vor zwei Jahrzehnten.

Chinesisch, Mathe, Englisch und Naturwissenschaften werden gebüffelt, und für die Kinder ist Freizeit ein knappes Gut. Psychologen und Kinderschutzorganisationen machen darauf aufmerksam, dass viele Schüler des Landes an Schultagen bis zu 16 Stunden auf dem Schulweg, im Unterricht oder bei den Hausaufgaben verbringen. Die durchschnittliche Schlafzeit der Mittelschüler, also Kinder im Alter zwischen 12 und 16, läge bei weniger als sieben Stunden.

 

 

Schulfrei habe ich nur während Taifunen und in der Woche über das Chinesische Neujahr, sonst habe ich jeden Tag im Jahr Unterricht“, sagt die 16-Jährige Neuntklässlerin Amy Xiong. „Alle meine Freundinnen gehen nach dem regulären Unterricht noch in Nachhilfeschulen. Wenn man so wie ich nicht fleißig ist, kommt man in der Schule sonst nicht hinterher.“

 

Die Buxibans, wie die privat geführten Einrichtungen auf Chinesisch genannt werden, sind aus Taiwans Straßenbild nicht wegzudenken – 9000 lizenzierte gibt es es laut Statistiken des Bildungsministeriums.

Viele der taiwanesischen Buxibans werden als Franchiseunternehmen geführt, und einige haben sich zu Großunternehmen entwickelt, die längst nach China, Korea, Japan und Südostasien expandiert haben.

 

 

Drei Wände in Amy Xiongs Klassenzimmer in der Nachhilfeschule sind in schlichter weisser und grüner Farbe gestrichen, die vierte Wand bildet eine Glasscheibe. Eine kleine Gruppe von Eltern sieht vom Flur aus ihrem Nachwuchs beim Pauken zu.

Auf den Schreibtischen liegen neben Schulbüchern und Federmappen Essstäbchen und kleine halbleergegessene Pappkartons mit Reis oder Nudeln. Kondenswasser tropft aus der Klimaanlage. Die meisten der Schüler tragen noch die Schuluniform ihrer Mittelschule, denn sie waren seit dem frühen Morgen nicht mehr zu Hause.

Um 22:05 Uhr legt der Lehrer den Marker auf den Pult, ein Aufatmen ist zu hören von den Kindern, und auch die Eltern hinter der Scheibe scheinen erleichtert.

 

Amy Xiong wird nach dem Nachhilfeunterricht von ihrer Mutter abgeholt. Die Teenagerin ist müde, es war ein langer Tag. Sechzehn Jahre sei sie alt, doch da für die Taiwanesen der Tag, an dem man geboren ist schon als erster Geburtstag zählt, ist sie eigentlich erst fünfzehn. In der neunten Klasse ist Amy, und darum ist dieses Jahr ihr schwerstes Jahr. Der Besuch der Mittelschule steht in Taiwan allen Kindern zu, aber die Plätze an den Oberschulen sind begrenzt und umkämpft. Amy erklärt: „Ohne Oberschulabschluss kann man keine Universität besuchen und hat auch sonst wenig Chancen auf eine gute Ausbildung.“

Das rigorose Aufnahmeexamen zur Oberschule, das im Mai auf Amy zukommt, ist der Grund dafür, dass sie abends noch länger paukt als in den Jahren zuvor.

Die Neuntklässlerin steht um 6:50 Uhr auf und frühstückt oft im Laufen auf dem Weg zur Mittelschule. Jeder von Amys Schultagen beginnt mit Tests für mehrere Fächer. Bis zum Mittag ist dann Unterricht, dann folgt das Mittagsessen in der Schule und der halbstündige Mittagsschlaf – sitzend, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch. Dann gibts wieder Unterricht bis 16:30 Uhr, und danach noch mal Tests für eine weitere Stunde. Von 18:30 Uhr bis 22:00 Uhr lernt Amy in der Buxiban, an Samstagen ganztags und an Sonntagen morgens und abends. Hausaufgaben erledigt Amy nach 22:30 Uhr. Die einzige Freizeit, die Amy zur Verfügung hat, sind die Stunden am Sonntagnachmittag. Die verbringt die Schülerin bei gutem Wetter in dem kleinen Park in der Nähe der Buxiban mit Federballspielen mit ihren Freundinnen.

Krankenschwester möchte Amy werden, und sie ist sich sehr bewusst, dass die Chance zur Erfüllung dieses Traumes von ihrem Abschneiden in dem großen Test im Mai abhängt.

Belastet ist nicht nur Amy selbst, denn ihre Eltern zahlen im Monat umgerechnet 260 Euro für den Unterricht in der Buxiban. Das ist keine Kleinigkeit, denn das monatliche Durchschnittseinkommen der Bürger Taiwans liegt bei ungefähr 900 Euro. Amy ist ein Einzelkind, doch Amys Mutter ist sich sicher, dass wenn sie mehrere Kinder hätte, diese auch zur Buxiban gehen ließe.

 

 

Kulturelle und wirtschaftliche Zusammenhänge lassen verstehen, warum so viele taiwanesischen Eltern bereit sind, sich und ihren Kindern solche Opfer abzuverlangen. In Taiwan, wie in anderen Ländern Nordost Asiens, gibt zwar äußerlich eine „ Höher, Schneller, Größer“ – Modernität den Ton an, aber innerlich prägen die von den chinesischen Philosophen der Antike vermittelten Werte das Denken und Miteinander. Neben der Ehrung der Eltern ist die fast religionsartige Wertschätzung der Bildung die wichtigste Säule dieser Lehren. Die Investition in Bildung wird so für Familien zur traditionellen Pflicht.

 

Pragmatischer betrachtet sorgen taiwanesische Eltern durch das Zahlen für den Unterricht ihrer Kinder in den Nachhilfeschulen für ihren eigenen Altersruhestand vor.

Medienberichten zufolge verbringen weniger als 10% der Senioren Taiwans ihren Lebensabend in Altenpflegeheimen, drei Generationen unter einem Dach sind in Taiwan somit der Normalfall. Eltern leben im Alter oft im Haushalt des ältesten Sohnes, und traditionell wird von allen Söhnen mit eigenem Einkommen erwartet, dass sie Vater und Mutter finanziell unterstützen. Im modernen Taiwan, mit seiner hohen Rate an berufstätigen Frauen, sorgen aber auch immer mehr Töchter geldlich für ihre Eltern.

Das Phänomen des Misstrauens gegenüber privaten Versicherungen kann jeder taiwanesische Versicherungsvertreter beklagen. „Versichert wird immer, aber ausgezahlt wird nie“, ist ein oft zititiertes Sprichwort. Wie ihre amerikanischen oder europäischen Berufsgenossen, einfach im eigenen Büro zu sitzen und auf Anfragen von Kunden zu warten, davon können die taiwanesischen Verkäufer von privaten Alters- , Lebens- oder Pflegeversicherungen nur träumen. Zwar sind fast alle Taiwanesen durch eine gesetzliche Krankenversicherung geschützt, aber bei vielem was darüber hinausgeht, setzten sie lieber auf Versicherung durch Familie. Die Rechnung ist einfach: Je höher der Bildungsgrad des Nachwuchses, desto höher dessen Einkommen; je höher das Einkommen, desto besser kommen Mutter und Vater im Alter über die Runden.

 

 

Wie in Deutschland wird auch in Taiwan viel über das Für und Wider von Ganztags- und Nachhilfeschulen und die damit verbundene Überlastung der Kinder diskutiert. Die Befürworter sehen bei einer Abschaffung des strengen und zeitlich langen Unterrichts die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit eines Landes ohne eigene nennenswerte Bodenschätze in Gefahr. Sie sehen in dem drakonischem Bildungssystem die Garantie für eine disziplinierte und leistungsfähige Arbeitnehmerschaft. Die Schüler erlangten in den langen Schultagen nicht nur Bildung, sondern auch Durchhaltevermögen, und das Fordern der Kinder durch die vielen Klassenarbeiten fördere die Wettbewerbsfähigkeit und Effektivität. Der pubertären Rebellion werden das Nichttolerieren von Unpünktlichkeit, das pflichtmäßige Tragen von Schuluniformen, und, bis vor kurzem, einheitliche Haarschnitte sowie das Verbot von Make-up entgegengesetzt.

Viele Taiwanesen sind der Ansicht es sei diesem System zu verdanken, dass Ländern wie Japan, Süd-Korea und Taiwan im Gegensatz zu westlichen Staaten viel soziales Übel erspart blieb. Die Strenge gegenüber den Kindern garantiere niedrige Verbrechensraten, weniger Rassismus, weniger Obdachlosigkeit, weniger Alkohol– und Drogenmissbrauch.

 

In Amy Xiongs Buxiban bietet sich wieder das allabendliche Bild: Die Eltern stehen plaudernt vor der Scheibe und sehen dem Nachwuchs beim Nachhilfeunterricht zu. Die Betreiberin der Buxiban, die Englischlehrerin Ursula Wang, eröffnete schon vor zwanzig Jahren ihre kleine Schule und verfolgt die gesellschaftlichen und bildungspolitischen Tendenzen ihres Landes quasi berufsbedingt. Sie hält es für möglich, dass die Tage des spätabendlichen Lernens in Taiwan gezählt seien. Sie sagt: „Die ganz jungen Eltern, also die so Mitte zwanzig, verzichten auf die Nachhilfeschulen. Die verbringen lieber mehr Zeit zu Hause mit ihren Kindern.“

 

 

 

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